Yolanda von ViandenErläuterungen3. Zur Überlieferung3.1
Allgemeines zur Überlieferung 3.1 Allgemeines zur ÜberlieferungDie Überlieferungsgeschichte der Yolanda-Vita ist -
trotz der wenigen bekannten Handschriften - kompliziert
und verwirrend. Folgender Überblick soll die
Orientierung erleichtern. Im Mittelalter - vor der
Erfindung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts -
wurden Texte in Handschriften überliefert. Von Bruder
Hermanns Versdichtung 'Yolande von Vianden' sind zwei
Handschriften bekannt geworden. Beide Handschriften waren
bis vor kurzem verschollen, so daß alle Informationen
aus zweiter Hand stammten.
Einen authentischen Eindruck von der mittelalterlichen Schreibsprache Luxemburgs vermittelte bislang allein die Abbildung der Handschriftenseite sowie der getreue Teilabdruck Pfeiffers, der jedoch nur wenige hundert Verse umfaßt. 3.2 Die Wiederentdeckung der Marienthaler HandschriftDer verloren geglaubte 'Codex Mariendalensis'
(Handschrift M) wurde am 6. November 1999 von Guy Berg
und Yasmin Krull auf der Burg
Ansemburg wiederentdeckt. Auf einer Pressekonferenz am 18.
November 1999 im Großen Auditorium der Banque de
Luxembourg wurde die Handschrift der internationalen
Presse vorgestellt; seitdem lagert sie in einem Banksafe.
Sie kann zur Zeit nicht eingesehen werden. Für die Sprachgeschichte bietet sich hier erstmals die Gelegenheit, einen authentischen Einblick in die moselfränkisch-luxemburgische Schreibvarietät anhand eines umfangreichen literarischen Textes zu gewinnen, denn literarische Quellen aus diesem Raum sind rar. In den Handbüchern und Grammatiken zum Mittelhochdeutschen (1050-1350) und Frühneuhochdeutschen (1350-1650) konnte bislang allein auf die methodisch veraltete, normalisierte Edition John Meiers, die zudem noch auf einer Abschrift des 17. Jahrhunderts beruhte, zurückgegriffen werden. Da auch urkundliche Quellen dieses Zeitraums noch auf ihre Auswertung warten, war bislang nur ein verzerrtes, vielfach gebrochenes und sehr unvollständiges Bild der Geschichte des Moselfränkischen zu zeichnen. Die Entdeckung der mittelalterlichen Handschrift zeigt nunmehr deutlich die großen Abweichungen zwischen Quelle und Edition und damit den großen Gewinn für die Sprachwissenschaft: Eine genaue Sprachanalyse der Handschrift wird einen zentralen Beitrag zur Erforschung des Moselfränkisch-Luxemburgischen sowie der Etablierung der volkssprachigen Schriftlichkeit in diesem Raum liefern. Sie kann darüber hinaus den Beitrag der regionalen Schreibsprachen des Westens an der Ausbildung der neuhochdeutschen Standardsprache erhellen, der bislang noch völlig unzureichend erforscht ist. Diese Handschrift ist also nicht allein für die luxemburgische Sprachgeschichte, sondern auch für die gesamte Germanistik einer der bedeutendsten Funde der letzten Jahre. Doch auch für die Literaturgeschichte und verschiedene historische Disziplinen ist Bruder Hermanns 'Yolanda' eine wissenschaftliche Goldgrube. Interessen, Konflikte, Strukturen und Verhaltensweisen der hochadligen Familie werden mit einem Realismus und einer Lebensnähe geschildert, die innerhalb der mittelalterlichen Literatur singulär ist. Die historische Forschung kann hier anhand einer einzigartigen Quelle Einblicke in die mittelalterliche Regional-, Sozial-, Mentalitäts- und Frömmigkeitsgeschichte gewinnen. Nicht zuletzt ist der Fund des Codex für die Kodikologie und die Paläographie, also die Handschriften- und Schriftkunde, ein außerordentlicher Gewinn, denn er erweitert die Kenntnis über die Produktion literarischer Handschriften im moselfränkisch-luxemburgischen Raum. 3.3 Erste Beschreibung der Marienthaler HandschriftVerschiedene Aspekte werden nun vor der eigentlichen Edition des Textes an der Handschrift selbst untersucht werden müssen: Eine genaue paläographische und kodikologische Analyse, also die Untersuchung der Schrift sowie der äußeren Einrichtung der Handschrift, kann Anhaltspunkte zur Datierung und Herkunft der Handschrift geben. Nach dem ersten Eindruck zu urteilen, der allerdings noch durch die genaue und umfassende Autopsie der Handschrift geprüft werden muß, ist der Erhaltungszustand des Codex ausgezeichnet; es sind keine Wasserschäden, Schriftabrieb oder sonstige Schäden auszumachen. Die Handschrift erscheint für den Laien zunächst überraschend klein, unscheinbar, bescheiden. Dazu trägt wohl auch der einfache Leder- oder Pergamentumschlag bei, der wohl der ursprüngliche sein dürfte. Es handelt sich um eine Oktavhandschrift (schätzungsweise 10x15 cm), die aus Pergament eher durchschnittlicher Qualität gefertigt wurde. Es ist an vielen Stellen genäht, manche Blätter haben fehlende Ecken, da das Pergamentblatt zu klein war. Das mittelalterliche Buch war kostbar vor allem durch seine teuren Materialien; das Pergament wird einen großen Posten, wenn nicht den größten der Gesamtherstellung ausgemacht haben. Die Einrichtung und Ausstattung der Handschrift sind dagegen um so sorgfältiger: Am Rand sieht man noch sehr gut die Einstichlöcher des Zirkels, mit dessen Hilfe die Liniierung vorgenommen wurde. Die Handschrift ist dem Format entsprechend einspaltig zu 21 Zeilen pro Seite in gotischer Buchschrift geschrieben. Die Verse sind abgesetzt geschrieben, d.h. ein Vers entspricht einer Zeile; die Anfangsbuchstaben eines jeden Verses sind rot gestrichelte Majuskeln, Reimpunkte am Versende fehlen. Einfache Initialen, sogenannte Lombarden, gliedern den Text in Abschnitte. Auf Bl. 2R, zu Beginn der eigentlichen Erzählung nach dem Prolog, findet sich eine besondere Schmuckform, die Fleuronée-Initiale, eine mit feinem Linienwerk verzierte farbige Initiale. Bei der Schrift selbst handelt es sich wie erwähnt um eine gotische Buchschrift, und zwar eine Textualis auf höchstem Niveau. Die Buchstaben sind kaum kursiv verbunden, sondern sorgfältig konstruiert; die Brechungen erinnern an gotische Spitzbogenarchitektur. Obwohl also Pergament und Einband nicht von höchster Qualität sind, wurde offensichtlich auf die sorgfältige Schrift sehr viel Wert gelegt. Dies läßt darauf hoffen, daß der Text aufmerksam und sorgfältig kopiert wurde. Eine genaue Einschätzung all dieser Fragen, zu denen hier nur ein erster Eindruck vermittelt werden konnte, wird erst die wissenschaftliche Spezialuntersuchung erbringen können. |