Yolanda von Vianden

Erläuterungen

3. Zur Überlieferung

3.1 Allgemeines zur Überlieferung
3.2 Die Wiederentdeckung der Marienthaler Handschrift
3.3 Erste Beschreibung der Marienthaler Handschrift


3.1 Allgemeines zur Überlieferung

Die Überlieferungsgeschichte der Yolanda-Vita ist - trotz der wenigen bekannten Handschriften - kompliziert und verwirrend. Folgender Überblick soll die Orientierung erleichtern. Im Mittelalter - vor der Erfindung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts - wurden Texte in Handschriften überliefert. Von Bruder Hermanns Versdichtung 'Yolande von Vianden' sind zwei Handschriften bekannt geworden. Beide Handschriften waren bis vor kurzem verschollen, so daß alle Informationen aus zweiter Hand stammten.
Eine Handschrift entstand wohl Anfang bis Mitte des 14. Jahrhunderts, also rund 50 Jahre nach Yolandas Tod, im Kloster Marienthal (Sigle M). Diese Handschrift M benutzte der gelehrte Jesuit Alexander Wiltheim 1655 für seine vermutlich recht genaue Abschrift des Textes (Sigle W). Wiltheims Abschrift W gelangte durch Erbgang über den Luxemburger Johann Friedrich Schannat in die Bibliothek des Prager Erzbischofs, Moritz Gustav Graf von Manderscheid-Blankenheim. In der Folge diente die Wiltheimsche Abschrift W als Grundlage für die neuzeitlichen Editionen des Textes, da der Marienthaler Codex M verschollen war. Franz Pfeiffer legte 1866 einen handschriftennahen Teilabdruck einiger hundert Verse der Handschrift W in seinem Altdeutschen Übungsbuch vor. 1889 unternahm John Meier erstmals eine vollständige Edition dieser Handschrift W, bei der er jedoch die Schreibung der Handschrift W in einigen Bereichen in Richtung auf das in Textausgaben damals übliche, sog. "klassische Mittelhochdeutsch" hin normalisierte. Da seitdem auch die Wiltheimsche Handschrift W als verschollen gilt, sind diese Eingriffe um so schwerwiegender.
Die Marienthaler Handschrift M wurde Anfang der 30er Jahre unseres Jahrhunderts von Albert Steffen wiederentdeckt. Er bildete eine Seite dieser Handschrift in der Zeitschrift Ons Hémecht ab. In den Wirren des Krieges ging diese Handschrift jedoch wiederum verloren, so daß nur diese eine Seite bekannt war.

Blatt 78 recto der verloren geglaubten Marienthaler Handschrift.

Abbildung aus Albert Steffen: Zum Aufenthalt des hl. Albertus Magnus auf der Viandener Grafenburg Schoenecken. In: Ons Hémecht (1932), S. 1-11.

Einen authentischen Eindruck von der mittelalterlichen Schreibsprache Luxemburgs vermittelte bislang allein die Abbildung der Handschriftenseite sowie der getreue Teilabdruck Pfeiffers, der jedoch nur wenige hundert Verse umfaßt.


3.2 Die Wiederentdeckung der Marienthaler Handschrift

Der verloren geglaubte 'Codex Mariendalensis' (Handschrift M) wurde am 6. November 1999 von Guy Berg und Yasmin Krull auf der Burg Ansemburg wiederentdeckt. Auf einer Pressekonferenz am 18. November 1999 im Großen Auditorium der Banque de Luxembourg wurde die Handschrift der internationalen Presse vorgestellt; seitdem lagert sie in einem Banksafe. Sie kann zur Zeit nicht eingesehen werden.
Die Bedeutung dieser Handschrift kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Sie ergibt sich aus ihrer singulären Stellung in der Sprach- und Literaturgeschichte des Mittelalters.

Für die Sprachgeschichte bietet sich hier erstmals die Gelegenheit, einen authentischen Einblick in die moselfränkisch-luxemburgische Schreibvarietät anhand eines umfangreichen literarischen Textes zu gewinnen, denn literarische Quellen aus diesem Raum sind rar. In den Handbüchern und Grammatiken zum Mittelhochdeutschen (1050-1350) und Frühneuhochdeutschen (1350-1650) konnte bislang allein auf die methodisch veraltete, normalisierte Edition John Meiers, die zudem noch auf einer Abschrift des 17. Jahrhunderts beruhte, zurückgegriffen werden. Da auch urkundliche Quellen dieses Zeitraums noch auf ihre Auswertung warten, war bislang nur ein verzerrtes, vielfach gebrochenes und sehr unvollständiges Bild der Geschichte des Moselfränkischen zu zeichnen. Die Entdeckung der mittelalterlichen Handschrift zeigt nunmehr deutlich die großen Abweichungen zwischen Quelle und Edition und damit den großen Gewinn für die Sprachwissenschaft: Eine genaue Sprachanalyse der Handschrift wird einen zentralen Beitrag zur Erforschung des Moselfränkisch-Luxemburgischen sowie der Etablierung der volkssprachigen Schriftlichkeit in diesem Raum liefern. Sie kann darüber hinaus den Beitrag der regionalen Schreibsprachen des Westens an der Ausbildung der neuhochdeutschen Standardsprache erhellen, der bislang noch völlig unzureichend erforscht ist. Diese Handschrift ist also nicht allein für die luxemburgische Sprachgeschichte, sondern auch für die gesamte Germanistik einer der bedeutendsten Funde der letzten Jahre.

Doch auch für die Literaturgeschichte und verschiedene historische Disziplinen ist Bruder Hermanns 'Yolanda' eine wissenschaftliche Goldgrube. Interessen, Konflikte, Strukturen und Verhaltensweisen der hochadligen Familie werden mit einem Realismus und einer Lebensnähe geschildert, die innerhalb der mittelalterlichen Literatur singulär ist. Die historische Forschung kann hier anhand einer einzigartigen Quelle Einblicke in die mittelalterliche Regional-, Sozial-, Mentalitäts- und Frömmigkeitsgeschichte gewinnen.

Nicht zuletzt ist der Fund des Codex für die Kodikologie und die Paläographie, also die Handschriften- und Schriftkunde, ein außerordentlicher Gewinn, denn er erweitert die Kenntnis über die Produktion literarischer Handschriften im moselfränkisch-luxemburgischen Raum.


3.3 Erste Beschreibung der Marienthaler Handschrift

Verschiedene Aspekte werden nun vor der eigentlichen Edition des Textes an der Handschrift selbst untersucht werden müssen: Eine genaue paläographische und kodikologische Analyse, also die Untersuchung der Schrift sowie der äußeren Einrichtung der Handschrift, kann Anhaltspunkte zur Datierung und Herkunft der Handschrift geben.

Nach dem ersten Eindruck zu urteilen, der allerdings noch durch die genaue und umfassende Autopsie der Handschrift geprüft werden muß, ist der Erhaltungszustand des Codex ausgezeichnet; es sind keine Wasserschäden, Schriftabrieb oder sonstige Schäden auszumachen. Die Handschrift erscheint für den Laien zunächst überraschend klein, unscheinbar, bescheiden. Dazu trägt wohl auch der einfache Leder- oder Pergamentumschlag bei, der wohl der ursprüngliche sein dürfte. Es handelt sich um eine Oktavhandschrift (schätzungsweise 10x15 cm), die aus Pergament eher durchschnittlicher Qualität gefertigt wurde. Es ist an vielen Stellen genäht, manche Blätter haben fehlende Ecken, da das Pergamentblatt zu klein war. Das mittelalterliche Buch war kostbar vor allem durch seine teuren Materialien; das Pergament wird einen großen Posten, wenn nicht den größten der Gesamtherstellung ausgemacht haben.

Die Einrichtung und Ausstattung der Handschrift sind dagegen um so sorgfältiger: Am Rand sieht man noch sehr gut die Einstichlöcher des Zirkels, mit dessen Hilfe die Liniierung vorgenommen wurde. Die Handschrift ist – dem Format entsprechend – einspaltig zu 21 Zeilen pro Seite in gotischer Buchschrift geschrieben. Die Verse sind abgesetzt geschrieben, d.h. ein Vers entspricht einer Zeile; die Anfangsbuchstaben eines jeden Verses sind rot gestrichelte Majuskeln, Reimpunkte am Versende fehlen. Einfache Initialen, sogenannte Lombarden, gliedern den Text in Abschnitte. Auf Bl. 2R, zu Beginn der eigentlichen Erzählung nach dem Prolog, findet sich eine besondere Schmuckform, die Fleuronée-Initiale, eine mit feinem Linienwerk verzierte farbige Initiale. Bei der Schrift selbst handelt es sich – wie erwähnt – um eine gotische Buchschrift, und zwar eine Textualis auf höchstem Niveau. Die Buchstaben sind kaum kursiv verbunden, sondern sorgfältig konstruiert; die Brechungen erinnern an gotische Spitzbogenarchitektur. Obwohl also Pergament und Einband nicht von höchster Qualität sind, wurde offensichtlich auf die sorgfältige Schrift sehr viel Wert gelegt. Dies läßt darauf hoffen, daß der Text aufmerksam und sorgfältig kopiert wurde. Eine genaue Einschätzung all dieser Fragen, zu denen hier nur ein erster Eindruck vermittelt werden konnte, wird erst die wissenschaftliche Spezialuntersuchung erbringen können.


 
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